Fast volle 20 Monate nach dem Berliner Jubiläumstreffen war es wieder
soweit, eine Mitteilung in den MARGINALIEN rief für den 14. bis 16.
September zum Treffen in Augsburg, und 58 Mitglieder, großenteils mit
Angehörigen, folgten der Einladung in die über zweitausend-jährige
Hauptstadt des bayerischen Schwaben. Im Kolpinghaus gegenüber dem
Mozarthaus empfing unser Augsburger Mitglied Matthias Haberzettl die
Anreisenden und teilte sie in die verschiedenen Besichtigungsgruppen des
umfangreichen Programmangebots auf. Er überreichte jedem außer
Informationsmaterial zur Stadt einen symbolträchtigen Holzschnitt, von
Gerd J. Wunderer eigens für das Treffen geschaffen, sowie eine
Kollektion von Broschüren mit Nachdrucken früher Klemke-Illustrationen
und ein Begleitheft zu einer Dresdner Klemke-Ausstellung aus eigener
Produktion. Für den Abend war die Mitgliederversammlung in den
Kolpingsaal einberufen worden. Dr. WK begrüßte die
Anwesenden, besonders herzlich die älteste Teilnehmerin, Ursula Krüger
(Potsdam), das Gründungsmitglied Udo Mammen (Halberstadt) und die
ebenfalls bei der Gründungsversammlung 1956 dabeigewesene Ingeborg
Eckert (Berlin). Es wurde der Verstorbenen des letzten Jahres gedacht:
Prof. Theodor Brüggemann, Dr. h.c. Heinz Sarkowski, Werner Schuder, Lutz
Brüders, Hans-Jürgen Stöppler, Karl Ludwig Leonhardt und Jens-Heiner
Bauer.
Der Vorstand mit dem neuen Schatzmeister Abel Doering (Berlin) wurde
kurz vorgestellt. Der Dank des Vorsitzenden ging an Matthias Haberzettl
für die Vorbereitung des Treffens, an Dr. Carsten Wurm für den 50.
Jahrgang der MARGINALIEN, die trotz aller finanziellen Probleme
weiterhin die Beilagen bringen werden, sowie für den Nachdruck des
ersten Heftes der MARGINALIEN und an Abel Doering für die Herstellung
des lange erwarteten Mitgliederverzeichnisses. Es wurde für das von
Hans-Udo Wittkowski initiierte neue Künstlerbuch mit originalgraphischen
Illustrationen von Claudia Berg zu Gedichten von Volker Braun geworben.
Der Mitgliederstand der Gesellschaft entwickelt sich momentan
bedenklich: Todesfälle, Umzüge und Austritte wegen Alter und Krankheit
werden zur Zeit durch Neueintritte nicht kompensiert. Werbung tut not,
und eine Radierung von Dieter Goltzsche als Werbeprämie für neue
Mitglieder liegt weiterhin bereit. Abschließend gab WK
bekannt, daß er aus persönlichen Gründen für die nächste Wahlperiode als
Vorsitzender nicht mehr zur Verfügung stehe. Man möge sich langsam
Gedanken über einen Nachfolger machen. Den Finanzbericht für das Jahr
2006 erstattete die bisherige Schatzmeisterin Gabriele Ballon, die das
Amt zum 1. Januar 2007 an Abel Doering übergeben hatte. Der mit Zahlen
belegte ausgeglichene Haushalt wurde im Bericht der Revisionskommission,
erstellt von Klaus Bartel und vorgetragen von Jutta Osterhof, bestätigt,
die Entlastung beantragt und durch die Mitglieder ausgesprochen.
WK ging noch kurz auf die Mitgliedschaft der
Pirckheimer-Gesellschaft im Kulturbund und im neuen Stiftungsrat der
Kulturbundstiftung ein. Die Stiftung soll kulturelle Vorhaben fördern
und unterstützen, ihr Stiftungsrat nimmt in Kürze seine Arbeit auf. Die
Diskussion über die nächsten Jahrestreffen begann mit der Verkündung
einer Einladung von Prof. Dr. Wolfgang Schmitz nach Köln am Rhein.
Dieses Angebot wurde mit großer Mehrheit für voraussichtlich September
2008 angenommen. Eine Spezialführung zum Erscheinungsort der Neuen
Rheinischen Zeitung bot Dr. François Melis an. Für die nächsten Jahre
wurden vorgeschlagen und befürwortet: Jena, Halle und Hannover. Außerdem
sei ein „kleines Treffen“ mit Fritz Treu in Radebeul im Gespräch. Nun
wurde es Zeit für das Festessen. Die auf den Tischen aufgestellten
Speisekarten, geschrieben und gestaltet von Prof. Lisa Beck, die auch
unter den Gästen weilte, wurden studiert, und man begab sich in mehreren
Gängen an das reichhaltige Büfett. Inzwischen breitete der Augsburger
Künstler Gerd J. Wunderer seine Buchobjekte auf Tischen aus, die dann
von ihm vorgestellt wurden. Außer einem Brecht-Heft im Auflagendruck
handelte es sich um Unikate aus den verschiedensten Materialien, die
Texte oft eingewickelt oder verschnürt in Stoffe, Papiere, Holz und
Stein, geheimnisvoll, orientalisch anmutend. Eine Wunderwelt der
Buchkunst außerhalb des Vertrauten.
Der Samstag stand, wie schon der Freitag, für Erkundungen vieler Aspekte
der Stadt zur Verfügung: Augsburg als Römerstadt, als Fuggerstadt, als
Textilstadt, als Kunststadt, als Brechtstadt und so fort. Dafür hatte
Matthias Haberzettl ein umfangreiches Programmangebot vorbereitet. Hier
können nur summarisch einige der Angebote angedeutet werden. Einen guten
Einstieg bot ein ausgedehnter Stadtrundgang mit der sehr versierten
Stadtführerin Brunhilde Thomae. Er begann am die Stadt beherrschenden
Renaissance-Rathaus mit seinem berühmten Goldenen Saal und führte durch
die schmalen Gassen der Handwerkeraltstadt zur Fuggerei, dieser seit
1521 bestehenden kleinen Stadt in der Stadt, „der ältesten
Sozialsiedlung der Welt". Am Komplex des Hohen Domes mit seinen vielen
Kunstwerken, auf dem Gelände der römischen Provinzhauptstadt Augusta
Vindelicum gelegen, mußte die Führung aus Zeitgründen abgebrochen
werden. Gleich gegenüber dem Dom liegt das mit einer Rokokofassade
versehene „Peutingerhaus“, das Wohnhaus des Augsburger Humanisten,
Gelehrten, Bibliophilen und Stadtschreibers Konrad Peutinger
(1465-1547), der auch mit Willibald Pirckheimer in Verbindung stand.
Das Stadtarchiv, derzeit in einem vierstöckigen Stadtpalais
untergebracht, bewahrt auf zirka 12 000 Regalmetern Urkunden und Akten,
Periodika und Bilddokumente zur Stadtgeschichte Augsburgs seit dem 11.
Jahrhundert. Der Leiter, Dr. Michael Cramer-Fürtig, führte die Gäste
durch das bis unter das Dach gefüllte Haus, soweit möglich, aus allen
Bereichen Beispiele vorzeigend. Zu ausgewählten Dokumenten aus 650
Jahren erschien soeben eine von ihm herausgegebene Publikation. Das vor
über 150 Jahren gegründete Maximilianmuseum, erst seit kurzem nach
mehrjährigem Umbau wiedereröffnet, zeigt in den 30 Räumen um den
glasüberdachten Hof eines alten Patrizierhauses in fünf Abteilungen
Skulpturen, wissenschaftliche Instrumente, Goldschmiedearbeiten und
viele andere Erzeugnisse der Kunsthandwerker und der Zünfte. In der
stadtgeschichtlichen Abteilung sind Architekturmodelle von Elias Holl
und einzigartige technische Modelle aus dem 18. Jahrhundert zu sehen.
Ein weiterer Anziehungspunkt war die Universitätsbibliothek, wo die 1980
für 40 Millionen DM vom Freistaat Bayern erworbene
Oettingen-Wallersteinsche Bibliothek geschlossen aufgestellt wurde.
Einst für ihre große Anzahl von Musikalien berühmt, bilden aber 117 000
Drucke des 16. bis 19. Jahrhunderts sowie 1600 Handschriften und 1300
Inkunabeln den Hauptteil des Bestandes. Darin sind unter anderem die
Bücher aus fünf schwäbischen Klosterbibliotheken enthalten. Den
Pirckheimern wurden repräsentative Werke ausgelegt, und man durfte sogar
einen Blick in die Magazine werfen.
Etwas außerhalb des Stadtzentrums fanden sich in einer stillgelegten
Fabrikhalle zwei Gruppen von Pirckheimern ein, um künftige Exponate
eines im Aufbau befindlichen Museums zu sehen. Das Ende 2008 zu
eröffnende „Bayerische Textil- und Industriemuseum“ (tim) wird das seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts angelegte Musterbucharchiv der Neuen
Augsburger Kattunfabrik aufnehmen. In über 550 dickleibigen Folianten
sind hier etwa 1,3 Millionen Stoffmuster in allen denkbaren Farben und
Formen als Zeichnungen oder Stoffproben aufbewahrt. Dr. Monika Fahn
schilderte die traditionsreiche Geschichte der Textilindustrie in
Augburg und Umgebung, schließlich kamen auch die reichen Fugger aus
einer Weberfamilie. Den Ausflug in dieses Randgebiet des Buch- und
Kunstschaffens mußte wohl niemand bereuen.
Einem der großen Söhne der Stadt, Bertolt Brecht, war eine eigene
Wanderung gewidmet: „Spurensuche in Sachen B.B.“ (Anderen großen Söhnen
wie Hans Holbein, Leopold Mozart, Eugen Diesel oder auch Caspar Neher
mußte man sich selbst zuwenden.) Mit Brechtmütze, Zigarre zerknautschter
Aktentasche und umgehängter Gitarre erschien der Schauspieler und
Brecht-Kenner Jochen Schneider zum vereinbarten Zeitpunkt am Rathaus und
zog dann, nach akustischem Kampf gegen das Glockenspiel des Perlachturms,
mit geschulter Stimme unentwegt Brecht singend und rezitierend, mit
seinem Anhang zu den Stätten des jungen Brecht (vom Kindergarten bis zum
Stammlokal) in den verwinkelten Gassen der Augsburger Unterstadt. Nicht
ohne Rührung hörten wir, nach dem Besuch der Barfüßerkirche, Brechts
Konfirmationsstätte, im stillen, weinumrankten Hofgarten der Gemeinde
die un-vergängliche Erinnerung an die Marie A. Nicht weit davon, vor
Brechts Geburtshaus Auf dem Rain 7 (seit 1985 Gedenkstätte) endete dann
die Führung mit dem lautstark geschmetterten Solidaritätslied, das sich
hier in dieser Umgebung und Stunde sehr seltsam ausnahm.
Oben am Obstmarkt erwartete derweil der Buchhändler Kurt Idrizovic,
Herausgeber der Dreigroschenhefte, in seinem Brechtshop die Pirckheimer,
um ihnen ein „brechtiges“ Geschenk zu machen und mancher Brecht-Freund
fand auch hier noch eine Rarität. Aber auch andere Antiquariate, Märkte,
Kirchen, Museen, Kaffee- und Biergärten lockten die Pirckheimer von
ihren Wegen ab. Mit weit offenen Türen präsentierte sich so das
Ladengeschäft des in Augsburg ansässigen Weltbild-Verlags, der mit
seinen Billigprodukten ganz Deutschland beglückt. Doch vielleicht sollte
man sich auch daran erinnern, daß er 2004 eine sehr preiswerte
Lizenzausgabe (von Taschen, Köln) der Schedelschen Weltchronik von 1493
herausbrach-te, eingeleitet und kommentiert von Stephan Füssel. Auf den
Blättern 91/92 findet man die erste halbwegs realistische bildliche
Darstellung Augsburgs (Augusta) auf einem doppelseitigen kolorierten
Holzschnitt. Dieses berühmte Buch ging schon 1496 in einer deutschen,
etwas verkleinerten Ausgabe von Augsburg aus in die Welt, gedruckt bei
Johann Schönsperger, für den auch Hans Burgkmair, ein weiterer großer
Sohn der Stadt, arbeitete.
Der Abend vereinte wieder alle Fuß- und Rückenlahmen im gemütlichen
Bräustüberl zum Thorbräu zu einem zwanglosen und entspannten
Beisammensein, zu Gesprächen bei schwäbischen Gerichten und Bieren des
Hauses. Einziger Tagesordnungspunkt war die Auktion, zu der der
Vorsitzende einlud. Das maßvolle Angebot machte sie nicht zu einer
Strapaze, es wurde flott geboten und gab kaum Rückgänge. Bücher zu Kunst
und kulturellen Themen, illustrierte Werke, so von Gunter Böhmer und
Werner Klemke wurden beboten, eine Goltzsche-Mappe ging für 74 Euro ab,
Die letzten Tage Napoleons brachten 16 Euro und zwei Bücher wurden einem
eifrigen Bieter, dem jüngsten Teilnehmer des Treffens, einem
neunjährigen Enkel eines Pirckheimers zugeschlagen. Um 22.30 Uhr kam das
Ergebnis: 466 Euro flossen in die Vereinskasse.
Sonntag, der 16., Abreisetag. Man räumte die Zimmer, aber eine
Veranstaltung stand noch aus, die Festveranstaltung im Kleinen Goldenen
Saal. Wir gingen am sonnigen Morgen durch die sonntäglich stillen Gassen
der alten Reichsstadt: Am Katzenstadel, Lange Gasse, Alte Gasse,
Jesuitengasse. Hier sollte es sein. Und schon strömten von verschiedenen
Seiten die Pirckheimer herbei. Der Kaiser rief und alle, alle kamen. Es
herrschte eine gewisse festliche Stimmung und dazu das – die Feder
sträubt sich, es niederzuschreiben – schon obligatorische
Pirckheimer-Wetter! Im zweiten Stock des stattlichen Hauses liegt der
Saal, lichtdurchflutet, golden und gar nicht klein, ein prachtvoller
Rokokosaal von 1765 mit riesigem Deckengemälde. An den Längsseiten je
acht große Fenster, durch die man auf die roten Ziegeldächer der
Umgebung und in den spätsommerlichen blauen Himmel blickt. Und nun wurde
es richtig festlich. Junge Musiker betraten die Bühne. Das Werner
Egk-Quartett unter der Leitung von Jakob Janeschitz spielte Werke von
Wolfgang Amadeus Mozart (sein Vater Leopold hatte in diesem Hause seine
Ausbildung erhalten) und Werner Egk, der ebenfalls hier Schüler war
(Abitur 1920). Dr. WK leitete mit persönlichen Worten über
Konrad Peutinger und Willibald Pirckheimer, das Peutinger-Gymnasium und
seinen Schüler Paul Wengert, der heute der Oberbürgermeister von
Augsburg ist, die Veranstaltung ein. Dann überbrachte Eva Leipprand, 3.
Bürgermeisterin und Kulturreferentin der Stadt, die Grüße ebendieses OB.
Sie sprach zur Rolle der Schrift und der Schriftlichkeit, über Augsburg
als Drucker- und Verlagsstadt mit dem Akzent auf Bücher in deutscher
Sprache, den Notendruck und Höhepunkte wie Hans Burgkmair mit dem
Theuerdank. Aus Augsburg kommen auch das erste Liederbuch und das erste
Schwimmlehrbuch. In ihrem Festvortrag Schriftgestaltung. Funktion,
Geschichte, Spuren in Augsburg gab Prof. Lisa Beck, emeritierte Dozentin
für Graphik-Design an der Fachhochschule Augsburg, eine breitangelegte
Übersicht über die Entwicklung der Schrift weltweit seit der Urzeit und
kam über die Augsburger Traditionen, ihre Pflege in der Kunstschule bis
zur heutigen Fachhochschule und ihrer persönlichen Rolle darin zu einer
faszinierenden Augsburger Konfession der besonderen Art! Als Hausherr
sprach abschließend Pater Albert Löscher, OSB, Konrektor am St.
Stephan-Gymnasium, zur Geschichte des Kleinen Goldenen Saales.
Ursprünglich für das Jesuitengymnasium St. Salvator erbaut, war der Saal
von Anfang an Mehrzweckraum für Theater, Versammlungen, Gottesdienste.
Nach dem Verbot der Jesuiten lange Zeit ohne Schulzugehörigkeit, wurde
er erst 1832 von König Ludwig I. den Benediktinern übergeben, die ihn
bis heute für das St. Stephan-Gymnasium nutzen. Mit der Erläuterung des
Deckengemäldes und der lateinischen Inschriften des Saales durch Pater
Albert fand das Treffen einen erhebenden und zukunftsgewandten Abschluß;
die Immanuel- Verheißung des Propheten Jesaja möge auch den Pirckheimern
Butter und Honig bescheren.
Um die Mittagsstunde gab es viel gegenseitigen Dank, Verabschiedungen
und Verabredungen, man ging auseinander, um sich zufällig bald wieder in
Kirchen, Museen oder Cafes zu begegnen. Augsburg erwies sich als eine so
geschichts- und kulturträchtige Stadt, daß ein dreitägiges Treffen nur
Einblicke geben konnte und mehr Anregung als Erfüllung bot. Wer konnte,
blieb noch einen Tag länger und besuchte vielleicht noch die imposante
St. Ulrich und Afra-Kirche mit den Heiligengräbern oder die Stätten der
Reformationsgeschichte, die Fuggerhäuser, das Schaezlerpalais mit dem
Fugger-Porträt von Abrecht Dürer oder – was hat Augsburg weltbekannt
gemacht? – die Puppenkiste mit dem Puppentheatermuseum.
Konrad Hawlitzki
4.10.07 |