© Die
Wochenzeitung - Der Inhalt
dieser Seite ist urheberrechtlich geschützt und nur nur für die persönliche
Information bestimmt. Jede weitergehende Verwendung, insbesondere die
Speicherung in Datenbanken, Veröffentlichung, Vervielfältigung und jede Form
von gewerblicher Nutzung sowie die Weitergabe an Dritte - auch in Teilen
oder in überarbeiteter Form - ohne Zustimmung sind untersagt.
Private Bibliotheken Sensationen, die das
Internet beschämen Von Stefan Howald Es gibt zu viele
Bücher auf dieser Welt. Was ist zu tun, wenn man zur eigenen
noch eine weitere Bibliothek erbt? Erwägungen in einem
Minenfeld der Erinnerungen. Zugleich ein Porträt des
Sammlers. Das
Testament war mir seit längerem bekannt, aber ich hatte die
Kopie in einer Ablage verstaut, aus den Augen, aus dem Sinn.
Gelegentlich, etwa als ein anderer Freund eine in 25 Jahren
angehäufte Bibliothek zu räumen hatte, wurde ich daran
erinnert, dass ich mich in absehbarer Zeit auch um eine
politische Sammlung zu kümmern hätte, mit 3000 Buchtiteln
und etlichem Dokumentationsmaterial. Das
Ende kam dann schmerzhaft rasch. Am Montag noch hatte ich
mit V. im Tessin telefoniert; am Mittwoch kam die Nachricht,
V. sei am Vortag im Spital verstorben. Zwei Jahre nach dem
Tod seiner geliebten E. war er ihr gefolgt. Ich
hatte die beiden beinahe 30 Jahre lang gekannt. Aus
politischen Zusammenhängen war eine Freundschaft entstanden,
die wir auch nach der Pensionierung der beiden
aufrechterhielten, als sie ins Tessin zogen. Literatur und
Politik, das waren zwei Pfeiler ihrer Leben, dazwischen die
unverbrüchliche Tatsache ihrer Beziehung, die symbiotisch
war. Geordnet und aufgereiht standen in V.s Arbeitszimmer
Dokumente zur kommunistischen Bewegung in der Schweiz,
marxistische politische Ökonomie, Materialien der
internationalen Gewerkschaftsbewegung. In zwei andern
Zimmern deutsche Belletristik - Klassiker, 1920er Jahre,
Nachkriegswerke -, Schweizer Literatur, praktisch
vollständig in Erstausgaben von Friedrich Dürrenmatt bis
Peter Weber; dazu 500 Titel französische Literatur, mit
einigen Schwerpunkten auf Rolland, Aragon, Triolet, de
Beauvoir, Yourcenar, eine italienische und angelsächsische
Abteilung, Kunst und Film. Zwei
Leben. Zwei Nachleben. Was geschieht heute mit solchen
Artefakten? Die Idee, die Sammlung öffentlich zugänglich zu
machen, war bald an der Realität einer sich
digitalisierenden Informationsgesellschaft zerbrochen. Jene
Studienbibliothek, für die die Bücher einst gedacht waren,
hatte ihre Bestände selbst in eine andere aufgelöst, und die
wiederum platzt aus allen Räumlichkeiten. Einem
deutschen Künstlerfreund waren etwa 200 Titel vermacht
worden, von Ilja Ehrenburg und Kurt Tucholsky sowie etliche
schöne Erstausgaben von Frans Masereel, den V. einst, als
Mitarbeiter beim Büchersuchdienst Theo Pinkus, betreut
hatte. Die engsten Familienangehörigen nahmen einige Bücher
mit persönlichen Erinnerungen zu sich, eine Freundin der
Verstorbenen wählte rund 400 Romane. Blieben die 3000
politischen Titel sowie weitere 2600 heimatlose
belletristische Bücher. V.
hatte nach der Pensionierung alle Bücher in Listen erfasst,
mit der Schreibmaschine, einer alten Hermes, für die er
jeweils Farbbänder in altmodischen Fachgeschäften besorgen
musste. 156 Seiten umfasste die Liste der politischen
Bücher, 151 diejenige der Belletristik, dazu jeweils
Namenregister; beides begann ich zu studieren, als ich mit
dem Zug ins Tessin fuhr. Erwartungsvoll, gespannt, dann
zusehends überwältigt ging ich die Buchgestelle durch. Mich
selbst interessierte etliches, aber meine Büchersammlung hat
bereits in den Luftschutzkeller übergegriffen. Was also
wollte ich selbst behalten? Und warum? Ein
Sammler, dessen umfassende Bibliothek zu einem Spezialgebiet
ich nur mit Staunen und etwas Neid bewundern konnte, hatte
sich vor einiger Zeit dagegen verwahrt, als Sammler
bezeichnet zu werden, und mit einigem Grund behauptet, aus
seiner Sammeltätigkeit ergebe sich strenge Wissenschaft. Und
vor kurzem hatte ein Freund und Journalist bei einem
Radiogespräch über eine seiner musikalischen Obsessionen auf
die Frage, wie viele CDs er von diesem Musiker besitze,
erklärt, er sei kein Sammler, ihm gehe es nicht um Besitz,
sondern um Genuss. Die Geringschätzung des Sammelns hatte
mich getroffen. Ich selbst gebe zu, ein Sammler zu sein,
wenn auch kein sehr systematischer und ausdauernder, und
hebe den Begriff von jenem des Jägers ab. Dem Sammler geht
es nicht nur ums Erlegen, er will seine Beute vorführen und
mit andern teilen. Allerdings sieht auch Walter Benjamin das
Sammeln aus dem niedrigen Instinkt des Besitzens
entsprungen, billigt aber der darauf aufbauenden, «ans
Maniakalische grenzenden Leidenschaft» zu, im besten Fall
wissenschaftlich und politisch fruchtbar zu werden. Jetzt
stand ich vor den Regalen und versuchte zu entscheiden, was
zu behalten, was wegzugeben, was wegzuwerfen sei. Die blauen
MEW, Marx-Engels-Werke in 42 Bänden, ins eigene
Büchergestell zu stellen, um die dort etwas verloren
wirkenden 10 Bände zu komplettieren - das wäre unproduktiver
Trotz gegen den Zeitgeist, von Lenin und Stalin zu
schweigen. Die zahlreichen Bücher zur Gewerkschaftsbewegung
vermochten mich beim besten Willen nicht richtig zu bewegen,
und von den ökonomischen Werken nur einige. Schriften von
Robert Grimm, Dokumente zur schweizerischen
Sozialdemokratie, zur deutschen Wiederaufrüstung: historisch
interessant, aber zu weit weg von den eigenen Interessen. 6000
Titel würden nach fachmännischer Schätzung etwa zweieinhalb
Tonnen ausmachen, zu viel für einen einzigen Lieferwagen.
Also organisierten wir an zwei Wochenenden mithilfe von
Freunden zwei Transporte nach Zürich. Es wurden 116
Tragtaschen beim ersten Mal, 70 beim zweiten Mal. 80
Tragtaschen mit politischen Büchern kamen zu einem Antiquar,
der resigniert meinte, natürlich müsse er eine solche
Sammlung übernehmen, obwohl sein eigenes Lager selbst
überquoll. Schwieriger wurde es mit der Belletristik. Romane
nach 1945 haben im Antiquariat kaum mehr eine Chance, werden
für 5 Franken angeboten und wandern nach kurzer Zeit ins
Brockenhaus. Generell, erklärte ein anderer Antiquar, sei
der Markt für das sogenannte Gebrauchsbuch durch das
Internet zusammengebrochen. Im ZVAB, dem Zentralen
Verzeichnis antiquarischer Bücher, werden 12 Millionen Titel
angeboten, was die Preise auf einen Blick aufs niedrigste
Niveau senkt. Diese
Bände, solide oder zerbrechlich, üppig verziert oder
nüchtern gebunden, vergegenständlichte geistige und
körperliche Arbeit, sollten nichts mehr wert sein, nicht
mehr zu gebrauchen, nicht mehr nachgefragt? Tagelang tastete
ich mich durch die verbliebenen Tragtaschen, nahm jedes
einzelne Stück in die Hand. Ach, diese taktilen Sensationen,
die das Internet und die digitale Informationsvermittlung
beschämen. Dieses spröde Rascheln beim Blättern in alten
Büchern. Beim
Beschauen bestätigten sich Lebensabschnitte der
Verstorbenen. Oder sie wurden erstmals gegenwärtig. So
zeigte sich eine Tradition der Kulturvermittlung in der
Westschweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Buchklubs und
Büchern aus dem Verlag Skira, die, wie ein Kollege erklärte,
eine wichtige Funktion beim Durchsetzen eines modernen
Designs erfüllt hatten. Oder
es ergaben sich historische Querschnitte. Richard Wrights
kritischer Band «Wir Neger in Amerika», eine
Büchergilde-Ausgabe von 1948, lag neben «Der Neger im
amerikanischen Leben», herausgegeben vom US-Archiv-Dienst,
Frankfurt 1952. Im Kalten Krieg behauptete der Band mit
vielen Fotografien, dass es mit der Diskriminierung der
Schwarzen gar nicht so schlimm stehe. Dagegen stellte ein
kleines Heftchen, «USA in Wort und Bild», herausgegeben in
Ostberlin 1951, die These auf, dass die Schwarzen in den USA
für Frieden und Freiheit kämpften, und dokumentierte auf
einer Doppelseite «(Sport in den USA» die Dekadenz des
Klassenfeinds mit Bildern über Schaukämpfe von im Schlamm
ringenden oder boxenden Frauen. In
etlichen Büchern fanden sich Rezensionen beigelegt,
gelegentlich auch Hinweise auf die Umstände des Kaufs. So
reiht man sich ein in eine Kette von BuchbesitzerInnen und
LeserInnen. Eine Broschüre, ein Nachdruck von Rosa
Luxemburgs Artikel «Die Eroberung der politischen Macht»,
erschienen in Nürnberg als Nr. 7 der «Kernschriften für das
revolutionäre Proletariat», schon etwas zerfleddert, war -
durch einen Stempel ausgewiesen - aus der Bibliothek der
Kommunistischen Partei Basel. Andere Broschüren kurz nach
dem Zweiten Weltkrieg stammten aus einer
Gewerkschaftsbibliothek, Schriften von Leonhard Ragaz oder
Gottlieb Duttweiler, als es der Migros noch um eine neue
Schweiz ging und nicht nur um den neusten Caffé Latte. Aus
zu viel Nostalgie retteten mich gelegentlich Pamphlete über
Verräter an der Arbeiterklasse, zeitgenössisch zu lesen und
dennoch Frösteln auslösend. Ist
auch Brecht nur noch Nostalgie? Da stapelte sich die
20-bändige Taschenbuchausgabe von 1967. Hoffnungslos, die
noch irgendwo unterbringen zu wollen. Da stand aber auch
eine Erstausgabe «Leben Eduards des Zweiten von England»,
Potsdam 1924, Gustav-Kiepenheuer-Verlag. Und da war «Furcht
und Elend des III. Reiches», aus dem Aurora-Verlag im New
Yorker Exil 1945. Was weht einen da an? Und warum? Ich
verlor mich in einem kleinen Arche-Bändchen von Günther
Anders mit Gesprächen und Erinnerungen an Brecht, das
witziger und präziser war als alle Würdigungen zum 50.
Todestag; später merkte ich mit gelinder Beschämung, dass
ich es schon besessen hatte. So erfuhr ich in den Büchern
nicht nur das fremde Leben, sondern sie warfen mir auch
Fragmente meines eigenen zurück. In
London hatte ich mich einst in einer Arbeitsgruppe mit
deutschsprachiger Exilliteratur in Grossbritannien
beschäftigt; und eine Kollegin hatte vom Schicksal des
Juristen Hans Litten erzählt, der von den Nazis ermordet
worden war. Jetzt lag vor mir der Rechenschaftsbericht von
dessen Mutter, Irmgard Litten, mit einem Zettel auf dem
Umschlag: «Fehleinband. Nicht für den Verkauf bestimmt.» Den
Zettel traute ich nicht abzulösen, aber dem Buchrücken liess
sich entnehmen, dass im französischen Exilverlag 1940 ein
paar Buchstaben des Titels durcheinander geraten waren: «Die
hôlle sieht Dich an», hiess es da. Daneben ein Band von
Hermann Adler, auf den sein Sohn Jeremy Adler, ein
hervorragender Literaturwissenschaftler, bei vielen
Gelegenheiten als frühen und profunden Analytiker des
Faschismus hingewiesen hatte. Ein merkwürdiges Unterfangen:
Hermann Adlers «Gesänge aus der Stadt des Todes», 1945
erschienen im Oprecht-Verlag, versuchten, in
klassizistischen Formen in der «altehrwürdigen Sprache der
Mörder» den Horror des Gettos und der Konzentrationslager zu
fassen.
Dazwischen gerieten wir an wunderschöne grellbunte
Scherenschnitte, die ein Verleger, der mit einer Chinesin
verheiratet ist und chinesische Werke veröffentlicht,
freundlicherweise identifizierte. Danach zeigten die
hauchdünnen Seidenpapiere Masken von Figuren aus der
Peking-Oper, gefertigt im Bezirk wie in der Provinz Hebei,
bekannt für ihre Scherenschnitttradition, herausgegeben von
einem Verlag für angewandte Kunst in Beijing, vermutlich in
den 1950er Jahren, jedenfalls nach 1949 und sicher vor der
Kulturrevolution. Ins
Büchergestell wanderte auch eine 1917 in der
Genossenschaftsdruckerei in Zürich erschienene Broschüre
«Der Attentatsprozess gegen Dr. Friedrich Adler». Dieser,
Sohn des österreichischen Sozialistenführers Victor Adler,
hatte 1916 den österreichischen Kriegsminister Karl Graf
Stürgkh erschossen und war zum Tode verurteilt worden, wobei
das Urteil in der zusammenbrechenden k. u. k. Monarchie nie
vollstreckt worden war. Vor ein paar Jahren hatte es in der
Robert-Musil-Forschung einen kleinen Streit abgesetzt, ob
Musil sich in einer Notiz zum Dilemma des pazifistischen
Gewalttäters womöglich mit dem Fall Friedrich Adler
auseinandergesetzt hatte. Der Frage wäre jetzt auf neuer
Textgrundlage nachzugehen; vielleicht trägt mein Sammeln
auch zur Wissenschaft bei.
Während die Büchergestelle noch voller wurden, wollten die
Tragtaschen nicht wirklich weniger werden. Dann entzifferte
ich einen Gedichtband von Gerard de Nerval, ausgewählt und
übersetzt von Albert Béguin. Béguin, in La Chaux-de-Fonds
geboren, hatte 1939 eine Dissertation über die deutsche
Romantik veröffentlicht, die 1972 von meinem Gymnasiallehrer
ins Deutsche übersetzt worden war; der wiederum hat sich
seit fünfzehn Jahren einen Namen als Herausgeber der
Bonstettiana gemacht, der historisch-kritischen Edition der
Briefkorrespondenzen des Berner Patriziers Karl Viktor von
Bonstetten, einem unglaublichen Monument der Gelehrsamkeit.
Was sollte ich mit diesem Nerval-Band, der unzweifelhaft zu
einem Menschen wie meinem ehemaligen Deutschlehrer gehörte?
Wären nicht auch andere Bücher bei andern Menschen besser
aufgehoben? Gezielt verschenkt, erhielten sie ein
sinnvolleres Nachleben, und auch die Verstorbenen lebten
weiter, in einem wenn auch nur punktuellen Erinnern. Bei
einer Einladung ergab sich die erste Gelegenheit, keinen der
Gäste ohne Buch aus dem Haus zu lassen. Während ein guter
Freund die Erstausgabe von Thomas Manns Rede «Freud und die
Zukunft», Wien 1936, erhielt, bekam seine Frau ein Kochbuch
mit Rezepten für Kalbshirn, das sie uns einmal als besondere
Delikatesse gepriesen hatte; mit dem Hirn für die Frau im
Gegensatz zum männlichen Unbewussten wurden
Geschlechterklischees subtil unterlaufen, und wenn sie
wollte, durfte sie auch in den Freud-Text hineinschauen.
Einen Freund, dessen frühes Romanmanuskript in einer Ablage
bei mir ruht, beschenkte ich mit der Autobiografie von
Auguste Forel, der in ebenjenem Manuskript eine Rolle
spielt, worauf er die Erinnerung an solche Jugendsünde mit
beinahe überzeugend gespielter Empörung quittierte. Eine
Freundin erhielt einen Roman aus der damaligen DDR
geschenkt, über den wir einst gemeinsam eine eher
fragwürdige Seminararbeit verfasst hatten, was sie durchaus
erheiterte. Dagegen rief andernorts eine illustrative
Anspielung auf einen Neujahrsgruss, der uns einst durch
einen erotischen Beiklang überrascht hatte, ein eher
zwiespältiges Echo hervor. Noch vor Ort setzte ein kleiner
Tauschhandel ein, als der Historiker beim Ökonomen eine
Schrift zur Mitbestimmung in der Schweiz ausbat, die er für
eine kommende Arbeit zu verwenden gedachte. Anderen konnte
ich nur geben, was sie schon besassen, zum Beispiel das
dritte Exemplar einer offenbar nicht eben seltenen
Ulrich-Bräker-Edition. Es gibt zu viele Bücher auf dieser
Welt.
Weiterhin unternehme ich dilettantische Ausflüge in
unbekannte Welten. Da findet sich beispielsweise ein Band «Poèmes
de la France malheureuse», 1942 in Neuenburg gedruckt, von
Jules Supervielle, der mit einem längeren Eintrag in
Wikipedia vertreten ist. Und wer, verrät ein anderer
Artikel, hat diesen Band herausgegeben? Albert Béguin. In
den 1941 von ihm begründeten «Cahiers de Rhône» erschienen
bis Kriegsende 61 Bände, darunter Aragons «Les Yeux d’Elsa»
und Texte von Paul Eluard, die sich ebenfalls in der
vermachten Bibliothek finden. Bücher sind ein Netzwerk und
wir vielfältig darin eingesponnen.